Diesmal geht es um Kulturverlust
Nach dem schweren Erdbeben im August 2021: ein Interview mit Yolette Etienne, Programmkoordinatorin bei Malteser International in Haiti.
Am 14. August 2021 erschütterte erneut ein schweres Erdbeben den Karibikstaat Haiti. Das Team von Malteser International, das gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen seit dem Jahr 2010 in Haiti arbeitet, war gleich in den ersten Tagen in der Krisenregion vor Ort, um zu helfen. Yolette Etienne, Programmkoordinatorin bei Malteser International in Haiti hat die beiden verheerenden Erdbeben der jüngeren Geschichte Haitis – im Januar 2010 und August 2021– hautnah miterlebt. Sara Villoresi, Referentin für Kommunikation bei Malteser International Americas in New York, hat mit ihr über die humanitäre Hilfe in Haiti und ihre persönlichen Erfahrungen gesprochen.
Villoresi: Das Département Nippes, in dem Malteser International seit vielen Jahren tätig ist, war besonders stark von dem Erdbeben im August 2021 betroffen. Wie konnten die Malteser helfen?
Etienne: Es waren insbesondere viele medizinische Einrichtungen zerstört und es gab viele Verletzte. Wir haben daher in der ersten Nothilfephase zunächst noch vorhandene medizinische Einrichtungen mit Verbrauchsmaterial und Medikamenten versorgt und besonders bedürftige Menschen wie Schwangere und stillende Mütter, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen mit Wasser, Lebensmitteln, Schutzplanen und Bargeld unterstützt.
Danach haben wir uns stärker auf die Bereiche Bildung, den Zugang zu sauberem Trinkwasser, die weitere Unterstützung von medizinischen Zentren und Bargeldverteilungen sowie eine umfassende psychologische Betreuung für die Menschen in den betroffenen ländlichen Gebieten und von Schulkindern konzentriert. Wir konnten in drei Distrikten bereits an 26 Schulen psychosoziale Aktivitäten für mehr als 4.000 Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer organisieren. In den Gemeinden haben wir seit Beginn des Einsatzes mehr als 40.000 Menschen mit unseren Angeboten erreichen können. Mittlerweile wurde fast die Hälfte der zerstörten oder beschädigten Schulen wieder aufgebaut, und die Kinder in den betroffenen Gebieten können wieder zur Schule gehen.
Villoresi: Sie haben bereits das große Erdbeben im Jahr 2010 in Haiti miterlebt. Inwiefern ist das Beben im August 2021 anders gewesen?
Ja, ich habe beide Erdbeben miterlebt. Der Hauptunterschied im Vergleich zu 2010 ist die Lage des Epizentrums. Damals war die Hauptstadt Port-au-Prince betroffen, nun lag das Epizentrum in den ländlichen Gebieten im Süden. Das Ausmaß und der Verlust von Menschenleben im Jahr 2010 waren enorm. Wir alle – auf nationaler und internationaler Ebene – waren völlig überfordert. Wir wussten nicht, wo wir anfangen sollten.
Dieses Mal geht es nicht nur um den Verlust von Menschenleben, sondern auch um den Verlust von Kultur. Viele Kirchen und Denkmäler unseres Kulturerbes sind zerstört. Abgesehen von ihrer symbolischen und spirituellen Bedeutung für die Bevölkerung hätten sie auch Einnahmen aus dem Tourismus – und nun ist all dies verloren.
Im Jahr 2010 hatte man zudem das Gefühl, dass die internationalen Organisationen in das Land eindringen: Jeder machte, was er wollte. Die haitianische Bevölkerung, die haitianische Regierung und die lokalen Organisationen wurden völlig übergangen. Jetzt scheint es einen Wandel zu geben, zumindest in der Art und Weise, wie über Hilfe in Haiti diskutiert wird, da scheint es mehr Verständnis dafür zu geben, dass es besser ist, Raum für lokale Organisationen zu lassen. Allerdings lassen diese Koordinierungsbemühungen bereits wieder nach, daran müssen wir weiterhin arbeiten.
Unsere Hilfe in Haiti
5 Gesundheitsstationen wurden von Malteser International mit u. a.Material und Medikamenten unterstützt.
10.000 Menschen konnten durch Projekte wie Gemüse- oder Obstgärten, Schaf- oder Ziegenzucht ihre Lebensgrundlagen langfristig verbessern
3.600 Bedürftige, insbesondere Schwangere, stillende Mütter, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, erhielten Nothilfe in Form von Bargeldverteilungen
Villoresi: Sie haben ja einige Kritikpunkte an der Hilfe im Jahr 2010 angesprochen. Sind Bargeldverteilungen eine Lösung, damit die Hilfe auch wirklich bei der haitianischen Bevölkerung ankommt?
Für mich sind Bargeldverteilungen allein keine Lösung. Aber Bargeldhilfen als Bestandteil eines durchdachten Programms sind ein guter Weg, den Menschen zu helfen, und auch wirtschaftlich sinnvoll. Indem wir die Menschen begleiten und ihnen zeigen, wie sie das Bargeld investieren können, damit sie davon langfristig profitieren, können wir ihnen helfen, ihre Lebensgrundlage wiederherzustellen, und das ist der eigentliche Grund, warum wir da sind. Die erste Bargeldverteilung, die wir nmittelbar nach dem Erdbeben vorgenommen haben, war von der Menge her rein symbolisch. Aber sie zeigte der Bevölkerung, dass wir ihr zutrauen, selbst zu wissen, was sie braucht. Es ist auch wirtschaftlich für die haitianischen Märkte sinnvoll. In den Städten Les Cayes, Jérémie und Miragoane zum Beispiel wurden die lokalen Märkte nicht zerstört. Indem wir den Menschen begrenzte Bargeldbeträge anstelle von großen Lebensmittelverteilungen zur Verfügung stellten, unterstützen wir diese lokalen Märkte.
Wichtig war uns bei unseren Verteilungen ein transparentes Vorgehen: Von Anfang an haben wir dafür gesorgt, dass jeder die Kriterien kennt, nach denen wir unsere Hilfe verteilen: nämlich, dass wir uns auf Frauen, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen konzentrieren werden.
Auch der Zugang zu den Hilfen und die Rechenschaftspflicht spielen für uns eine wichtige Rolle. Viele Nichtregierungsorganisationen verteilen das Geld in größeren Städten, was den Zugang zu dieser Hilfe für die Menschen in den ländlichen Gebieten erschwert. Wir bringen das Geld zu den Menschen. Dabei arbeiten wir mit den örtlichen Behörden zusammen, die uns die Liste der Empfängerinnen und Empfänger in ihrer Gemeinde geben. Wir respektieren sie und ihr Wissen, sind uns aber auch bewusst, wie weit verbreitet die Korruption auf dieser Ebene ist.
Um die Rechenschaftspflicht zu erhöhen, sind wir diejenigen, die das Geld zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation AHAAMES verteilen. So stellen wir sicher, dass alle Kriterien beachtet werden. Außerdem haben wir über viele Jahre hinweg Beziehungen zu der lokalen Bevölkerung in unserem Projektgebiet aufgebaut, das nun so schwer betroffen ist. Wir kennen die Menschen und ihre Situation.
Villoresi: Ich kann mir vorstellen, dass die unsichere Lage in Haiti Auswirkungen auf die humanitären Bemühungen insgesamt hat. Wie hat sich dies auf die Arbeit von Malteser International ausgewirkt?
Die kurze Antwort lautet: Ja, das ist sicherlich ein Problem, und wir mussten und müssen unsere Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Das tun wir beispielsweise, indem wir vermehrt im Home Office arbeiten, um Arbeitswege zu minimieren, oder indem wir humanitäre Flüge nutzen, anstatt auf dem Landweg zu reisen, um durch Gangs kontrollierte Gebiete zu meiden. Kriminelle Banden haben die Macht, unsere Bewegungsfreiheit einzuschränken, sie greifen Konvois und Entwicklungshelferinnen und -helfer an.
Wir haben den Eindruck, dass die Regierung und die Polizei die Situation nicht unter Kontrolle haben, so dass wir uns nicht auf ihre Hilfe verlassen können. Während sich die Gewalt der Banden normalerweise auf die städtischen Gebiete konzentriert, haben wir eine Zunahme der Unsicherheit in den ländlichen Gebieten beobachtet, was ein besorgniserregender Trend ist. In den am stärksten betroffenen Regionen wurde viel Bargeld verteilt, wodurch eine positive wirtschaftliche Dynamik entstanden ist. Leider ist der Austausch mit der Hauptstadt aufgrund der schwierigen Sicherheitslage mehr oder weniger blockiert, was die positiven Effekte deutlich mindert.
Villoresi: Abschließend möchte ich noch auf etwas Persönliches eingehen. In den ersten Tagen nach der Katastrophe hatte unser Team einen internen Gruppenchat eingerichtet, um unsere Arbeit zu koordinieren und Informationen auszutauschen. An einer Stelle erwähnten Sie, dass unter den 2.200 Todesopfern des Erdbebens einer Ihrer besten Freunde war – ein Priester. In der akuten Nothilfephase gingen wir schnell zu logistischen und sicherheitstechnischen Fragestellungen über, aber ich habe diese Nachricht nicht vergessen und möchte sie gerne weiterverfolgen: Dies ist Ihr Zuhause, dies sind Ihre Freunde, Ihre Familie. Wie kommen Sie selbst mit den Auswirkungen des Erdbebens zurecht?
Im Jahr 2010 verlor ich bei dem Erdbeben meine Mutter und auch Kinder, die wie meine eigenen waren. Das war sehr schmerzhaft. Die einzige Möglichkeit, solche Dinge zu überwinden, war und ist für mich die Unterstützung anderer. Wenn man das nicht hat, kann man mit einer solchen Situation nicht umgehen. Den Freund, den ich bei diesem jüngsten Erdbeben verloren habe, kannte ich seit über 40 Jahren. Er war ein Priester, der sich voll und ganz für die Bevölkerung einsetzte. Und wenn er noch leben würde, wäre er der Erste gewesen, der Hunderten, Tausenden von Menschen geholfen hätte. Ich konnte nicht an seiner Beerdigung teilnehmen. Meine Arbeit zu machen, ist die beste Art, ihn zu ehren.
Nothilfe 2021 weltweit
Wir helfen Menschen in Not bei Krisenfällen wie Naturkatastrophen, Epidemien oder bewaffneten Konflikten. Im Jahr 2021 hatten wir mehr als 20 Nothilfeeinsätze, darunter unter anderem:
+ Nothilfe für Flüchtlinge in Afghanistan, im Irak, in Kolumbien, Syrien, Uganda und der Zentralafrikanischen Republik |
+ Nothilfe nach Überflutungen in Bangladesch und dem Südsudan |
+ Nothilfe im Rahmen der Covid-Hilfe in der DR Kongo, in Kenia, Kolumbien, Myanmar, Nigeria, Nepal, Indien und Venezuela |
+ Nothilfe nach Taifun Rai auf den Philippinen und den Hurrikans ETA and IOTA in Guatemala. |