Mentale Gesundheit: Den Teufelskreis der Stigmatisierung durchbrechen - Psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete in Thailand
Interview mit Chitlada Kankeow, psychosoziale Betreuerin in Camps für Vertriebene aus Myanmar
Als mich die 48-jährige Chitlada Kankeow an ihrem Arbeitsplatz begrüßt, fühle ich mich sofort wohl. Sie hat eine ruhige und freundliche Ausstrahlung. Auch der helle Raum der „Psychosocial Support Unit“ lädt zum Verweilen ein. Wie die anderen Räumlichkeiten des Malteser International Krankenhauses ist er aus Bambus und Holz gebaut.
Wir befinden uns im Camp Mae Ra Ma Luang, einem von neun Flüchtlingscamps im Nordwesten Thailands, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Myanmar entfernt, eingeschlossen von üppig grünen Wäldern, die sich die umgebenen Berge hinaufziehen. Rund 100.000 Menschen - die meisten von ihnen Angehörige der ethnischen Gruppe der Karen - haben hier einen sicheren Ort gefunden, nachdem sie, ihre Eltern oder Großeltern vor Gewalt und Verfolgung in Myanmar geflohen sind. Die Camps bestehen bereits seit über als 30 Jahren. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner sind hier geboren und gehören der zweiten oder sogar dritten Generation an, die noch nie in Myanmar gewesen ist. Obwohl es hier friedlich und sicher ist, sind die Perspektiven und Möglichkeiten für die Menschen begrenzt. Da sie rechtlich nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, dürfen sie die Camps nicht verlassen, nicht arbeiten und sich in ihrem Gastland nicht frei bewegen und entfalten. Wie wirkt sich eine solche Lebenssituation und die Erfahrung der Vertreibung auf die Menschen und ihre psychische Gesundheit aus? Und wie können sie begleitet und unterstützt werden, auch wenn oder gerade weil sich die aussichtslosen Rahmenbedingungen und Umstände nicht so bald ändern werden?
Chitlada Kankeow und ihr Team beschäftigen sich mit eben jenen Fragen und stehen mit verschiedenen psychosozialen Angeboten den Menschen in den Camps zur Seite. Ich setze mich mit ihr zusammen, und wir sprechen über die Bedeutung und die Herausforderungen der psychosozialen Unterstützung.
Was sind Ihre Aufgaben in den Flüchtlingscamps in Thailand?
Chitlada Kankeow: Ich bin weder Psychiaterin noch Psychologin, sondern ausgebildete psychosoziale Beraterin. In diesem Beruf arbeite ich bereits seit vielen, vielen Jahren. Für Malteser International bin ich seit 2018, also seit fast fünf Jahren, als „Psychosocial Support Supervisor“ tätig. Eine meiner Hauptaufgaben ist es, unsere Gesundheits-Mitarbeitenden in den Camps zu schulen, vor allem natürlich die psychosozialen Betreuerinnen und Betreuer. Sowohl im Mae La Oon als auch im Mae Ra Ma Luang Camp haben wir je ein fünfköpfiges Team, das sich um die mentale Gesundheit der Menschen kümmert. Die Teammitglieder sind selbst Geflüchtete und leben in den Camps. Ich bilde sie aus, damit sie psychosoziale Unterstützung leisten können. Außerdem betreue und begleite ich sie bei den Einzel- und Gruppenberatungen, die wir anbieten, sowie bei allen anderen Aktivitäten, die mit psychosozialer Unterstützung zu tun haben. Ebenso führe ich Beratungsgespräche und andere Aktivitäten mit unseren Patientinnen und Patienten selbst durch. Ein weiterer Teil meiner Arbeit besteht darin, die Zusammenarbeit mit den gemeindebasierten Organisationen und den sogenannten „Section Committees“ (von Geflüchteten geleitete Organe zur Campverwaltung) zu fördern und zu unterstützen, um die Campbevölkerung über mentale Gesundheit aufzuklären.
Warum haben Sie diesen Job gewählt? Was ist Ihre Motivation?
Meine Familie ist groß und mein Großvater war Pfarrer. Als ich jung war, sah ich, wie mein Großvater anderen Menschen half, indem er zum Beispiel Gemeindemitglieder besuchte, denen es nicht gut ging. Er sagte uns Kindern immer, dass, wenn uns die Möglichkeit geboten wird, unseren Mitmenschen zu helfen, wir dies auch tun sollen. Seine Worte begleiten mich seitdem. Bis heut trage ich sie in meinem Herzen und meinem Geist. Deshalb bin ich froh, dass ich in meinem Beruf Menschen helfen darf und sie dabei unterstützen kann, sich besser zu fühlen. Andere Worte, die mich motivieren, stammen aus einer Rede von Barack Obama. Er sagte: "Wenn du hinausgehst und etwas Gutes tust, wirst du die Welt mit Hoffnung erfüllen". Meiner Meinung nach zeigt das, dass Gutes tun nicht unbedingt mit einer großen Aktion oder großem Engagement einhergehen muss. Scheinbar kleine Dinge, wie anderen zuzuhören und sie zu Wort kommen zu lassen, helfen den Menschen ebenso.
Warum ist psychosoziale Unterstützung so wichtig – im Allgemeinen und im Flucht-Kontext?
Psychosoziale Unterstützung ist sehr wichtig, und mit all den Veränderungen in der Welt wird sie immer wichtiger. Dies sind Dinge, die uns alle betreffen: Globalisierung, soziale Medien, sich verändernde Beziehungen, zunehmende Krankheiten und Pandemien wie COVID-19. Wenn man nicht gelernt hat, in einer solchen Welt emotional zurechtzukommen, und sich unsicher fühlt, dann leidet die mentale Gesundheit. Deshalb glaube ich, dass psychosoziale Unterstützung für alle sehr wichtig ist. Speziell in den Flüchtlingscamps wissen viele Menschen nicht, ob sich ihre Situation in Zukunft ändern wird. Sie wissen nicht, was passieren wird und fühlen sich hilflos, da die Entscheidung häufig nicht in ihrer Hand liegt. Sie fragen sich: Muss oder soll ich nach Myanmar zurückkehren, auch wenn es dort nicht sicher ist? Andere träumen davon, in ein Drittland zu gehen. Dies gleicht einem Lottogewinn und ist für viele Menschen nahezu unmöglich, da nur eine Handvoll Länder bereit ist, eine äußerst begrenzte Zahl an Geflüchteten unter bestimmten Bedingungen aufzunehmen. Die Menschen wissen also nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird. Deswegen leiden sie, sind emotional erschöpft und depressiv.
Wie finden die Menschen in den Camps zu Ihnen?
Einige Patientinnen und Patienten werden an uns von unseren medizinischen Kolleginnen und Kollegen überwiesen, nachdem sie in unseren stationären oder ambulanten Gesundheitsstationen wegen etwas anderem behandelt wurden oder die eigentliche Ursache der Symptome ggf. auf psychische Probleme zurückzuführen ist. Andere werden von unseren Community Health Workers geschickt, die eng mit der Bevölkerung zusammenarbeiten und geschult sind, Verdachtsfälle zu erkennen. Weitere Patientinnen und Patienten kommen durch andere Organisationen, die in den Camps tätig sind. Wiederum andere kommen, weil sie von jemanden, der bereits zu uns kommt, Positives über unsere Angebote gehört haben. Mein Team besucht auch Haushalte und Familien in den Camps. So lernen uns viele Campbewohnerinnen und -bewohner persönlich kennen. Dies senkt die Hemmschwelle, unsere Praxis aufzusuchen. Ähnlich haben wir festgestellt, dass es sehr hilfreich ist, in die Gesundheitsstationen und Wartezimmer zu gehen, um die Patientinnen und Patienten, die eigentlich auf eine medizinische Behandlung warten, zu begrüßen und mit ihnen zu sprechen. So lassen wir sie wissen, dass es uns und unsere psychosoziale Unterstützung gibt und ihre Anliegen uns am Herzen liegen. Das finde ich sehr wichtig.
Wie sieht die psychosoziale Unterstützung in den Flüchtlingscamps in Thailand aus?
Wir bieten Einzel- und Gruppenberatungen an. Ein Patient, der in unsere Einzelberatung kommt, wird ebenfalls in die Gruppenberatung eingeladen. Hier haben unsere Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu teilen, werden aber auch ermutigt, auf die anderen in der Gruppe einzugehen und sie zu beraten. Auf diese Weise können sie voneinander lernen, sehen, wie andere Menschen mit psychischen Problemen umgehen, und erfahren, dass sie damit nicht allein sind. Neben der Beratung bieten wir Entspannungsaktivitäten wie Atemübungen, Massagen und Yoga an. Vor allem die Teenager machen gerne Yoga. Diese körperlichen Übungen sind wichtig, denn psychische Probleme gehen oft mit körperlichen Beschwerden einher, zum Beispiel mit Müdigkeit oder Atemproblemen. Diese Entspannungsübungen helfen vielen ungemein, sie fühlen sich danach besser. Die Übungen sollen sie ebenso zuhause durchführen. Bei der nächsten Sitzung fragen wir dann, wie sie sich mit diesen Übungen fühlen. Wenn eine Person mit diesen Aktivitäten nicht wohl fühlt, geben wir ihr andere Hilfsmittel an die Hand. Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse. Wir besuchen unsere Patientinnen, Patienten und andere Gemeindemitglieder auch zu Hause und leisten Aufklärungsarbeit über mentale Gesundheit in den Camps. Doch es nicht nur unsere Aufgabe als psychosoziales Unterstützungsteam, uns um die psychische Gesundheit der Menschen zu kümmern. Das gesamte Malteser International-Personal in den Camps, seien es Krankenpfleger, Ärztinnen oder Ernährungsberaterinnen, ist ebenfalls in diesem Bereich tätig – oft mit kleinen Dingen. Wir betrachten die Gesundheit der Menschen, die zu uns kommen, ganzheitlich. Selbst eine kurze Frage, z.B. beim Blutabnehmen, wie "Wie geht es Ihnen?" kann dazu beitragen, dass sich jemand besser fühlt oder sich uns gegenüber öffnet. Diese Dinge machen einen großen Unterschied.
Wie wird die psychosoziale Unterstützung von der Campbevölkerung angenommen? Gibt es Vorurteile bezüglich mentaler Gesundheit?
Ich denke, das Stigma, das mit psychischen Problemen verbunden ist, ist überall auf der Welt ähnlich. In der Kultur der Karen ist es üblich, sich nicht sehr emotional zu äußern und nicht darüber zu sprechen, was in einem vorgeht. Ja, wir haben in der Vergangenheit mit dem Stigma zu kämpfen gehabt. Manche Leute sagten zum Beispiel, unsere Angebote seien nur für Psychopathen. Das schöne ist, dass es eine Lösung dafür gibt: Bildung. Wir klären die Gemeinschaft darüber auf, was wir tun und warum es wichtig ist. Außerdem tragen unsere Patientinnen und Patienten unsere Botschaft weiter, indem ihr Umfeld mitbekommt, dass es ihnen nach den Gesprächen mit uns besser geht. Aufklärung und Förderung des Verständnisses - dies trägt dazu bei, den Teufelskreis der Stigmatisierung zu durchbrechen, so dass die Menschen ihre Meinung über psychosoziale Dienste ändern: von "das ist etwas für Psychopathen" zu "das hilft Menschen, sich besser zu fühlen". Auf individueller Ebene ist der Aufbau einer Beziehung zu den Patienten entscheidend, damit sie lernen und wissen, dass sie uns vertrauen können. Das Erste, was wir tun, ist, sie reden zu lassen und ihnen zuzuhören. So fangen wir an, und mit der Zeit öffnen sie sich mehr und mehr.
Warum kommen die Menschen zu Ihnen? Mit welchen psychischen Problemen haben sie zu kämpfen?
Fast alle Menschen, die zu unserem psychosozialen Betreuungsteam kommen, klagen zunächst über körperliche Probleme. Nach den ersten Gesprächen wird den meisten klar, dass es sich nicht um ein körperliches Problem handelt, sondern dass ihre Beschwerden mit ihrer psychischen Gesundheit zusammenhängen. Die meisten Patientinnen und Patienten leiden an Depressionen, die in der Regel eine Folge der traumatischen Ereignisse sind, die sie vor und während, aber auch nach ihrer Flucht aus Myanmar erlebt haben. Die Symptome, die ich regelmäßig sehe, sind, dass die Patienten leiden und nicht mehr zurechtkommen. Normalerweise haben sie eine ganze Reihe von Symptomen, bevor sie schließlich zu uns kommen. Wir untersuchen dann mit ihnen, wie sich ihre psychischen Probleme äußern, und stellen ihnen Fragen wie: Fühlen Sie sich antriebslos und wollen mit niemandem reden? Haben Sie Probleme, nachts zu schlafen? Sind Sie ohne ersichtlichen Grund ängstlich? Und so weiter. Auf diese Weise können wir herausfinden, mit welchem spezifischen Problem der Patient oder die Patientin zu tun hat. Da ich keine Psychologin oder Psychiaterin bin, ist mir wichtig zu erwähnen, dass wir nicht alle Menschen allein behandeln und ihnen helfen können, denn die psychische Gesundheit ist ein sehr sensibles Thema. Deshalb arbeiten wir eng mit anderen Fachleuten zusammen. Eine Psychiaterin aus Thailand berät uns bei schwereren Fällen. Manchmal bedeutet dies auch, dass wir jemanden an ein thailändisches Krankenhaus außerhalb des Camps überweisen müssen.
Sie arbeiten seit über vier Jahren mit den Geflüchteten. Gab es in dieser Zeit Veränderungen, die Sie feststellen konnten?
Wir haben jetzt mehr Patientinnen und Patienten als früher. Das bedeutet nicht, dass es mehr psychische Probleme unter den Flüchtlingen gibt als noch vor ein paar Jahren. Es zeigt vor allem, dass sie unsere Angebote bekannt sind, die Vorurteile abgenommen haben und sich immer mehr Menschen trauen, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist ein gutes Zeichen, was deutlich macht, dass sich mehr Menschen der Bedeutung psychischer Gesundheit bewusst sind. Dies ist auch ein Ergebnis unserer Sensibilisierungsmaßnahmen, die wir gemeinsam mit der Campverwaltung durchführen. In diesem Zusammenhang ist es uns sehr wichtig, dass die Flüchtlingsgemeinschaft selbst Verantwortung übernimmt und aktiv wird. Am „Tag der mentalen Gesundheit“ beispielsweise beziehen wir die Gemeinschaft in alle Planungen und Aktivitäten ein.
Wie sorgen Sie für sich und Ihr Team?
Wir helfen Menschen, also müssen wir uns auch um uns selbst kümmern. Wir beraten uns gegenseitig in unserem Team und haben Supervision. Ich lade unsere Mitarbeitenden regelmäßig zu diesen Treffen ein. Wir setzen uns zusammen und sprechen über die Herausforderungen, die Probleme, mit denen wir in unserer Arbeit konfrontiert werden. Ich gebe meinen Mitarbeitern ähnlich wie unseren Patientinnen und Patienten Tipps, wie sie Stress abbauen können, z. B. durch Massagen, Atemübungen usw. Mir persönlich gefallen die Atemübungen und das positive Denken. Ich denke jeden Tag darüber nach: Was macht mich heute glücklich? Was sind meine kleinen Glücksmomente?
Was berührt Sie in Ihrer täglichen Arbeit?
Ich liebe meinen Job und die Arbeit mit den Geflüchteten. Mein Team erzählte neulich, dass ein Patient erzählte, dass er sich viel besser fühlt, wenn er uns trifft und mit uns spricht. So etwas zu hören, macht mich stolz.
Dieses Interview wurde von Anne Hensel im September 2022 geführt.
Unsere Arbeit in Thailand
Seit 1993 führt Malteser International in den beiden Flüchtlingslagern Mae Ra Ma Luang und Mae La Oon an der thailändisch-myanmarischen Grenze ein breitgefächertes Basisgesundheitsprojekt für derzeit rund 18.000 Flüchtlinge durch. Unser Projekt umfasst sowohl umfassende kurative als auch präventive Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Flüchtlinge sowie die Bereitstellung von Wasser, sanitären Anlagen und Hygiene. Neben der medizinischen Behandlung in unseren Krankenstationen kümmern wir uns unter anderem um die Überweisung schwerer Fälle an thailändische Krankenhäuser und um die Vorbeugung und Bekämpfung von Ausbrüchen übertragbarer Krankheiten wie COVID-19. Außerdem begleiten wir Mütter und ihre Babys während und nach der Schwangerschaft und Geburt, stellen therapeutische und ergänzende Nahrung für mangelernährte Kinder bereit und bieten psychosoziale Unterstützung. Dies ist dank der finanziellen Unterstützung durch die Europäische Union und anderer Geber sowie private Spenden möglich.