EN | DE | FR
Jetzt Spenden

„Mein Zuhause hat sich in einen Ort des Grauens verwandelt“: Stimmen aus der Ukraine

Malteser International unterstützt die Menschen, die von den Folgen des Krieges in der Ukraine betroffen sind, schon seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen Malteser Ukraine, Mental Health Service (MHS) und Words Help haben wir unsere Hilfe vor allem seit Beginn des Invasionskrieges im Februar 2022 auf die mentale Gesundheit und psychosoziale Unterstützung der betroffenen Menschen fokussiert. In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt in diesem Bereich parallel zu den Problemen, mit denen unsere Fachleute konfrontiert werden, verlagert: von der Unterstützung der Menschen, die akut durch die Vertreibung aus ihrem Zuhause traumatisiert waren, hin zu Themen, die mit zunehmender Dauer des Krieges immer ausgeprägter auftreten, wie Depression, Trauer, Apathie, Planungsunfähigkeit, emotionale Erschöpfung und allgemeine Verunsicherung.

Bewältigung von Schmerz und Wut

Liliya ist 50 Jahre alt und lebte früher in Mariupol. Vor dem Krieg war ihre Heimatstadt eine schöne Stadt am Asowschen Meer, ein Wirtschafts- und Universitätszentrum mit einem wichtigen Hafen. Von März bis Mai 2022 wurde Mariupol von russischen Truppen belagert und schließlich eingenommen. Die Menschen erlebten schwere Kämpfe und schreckliche Zerstörungen, es kam zu massiven Fluchtbewegungen. Von den etwa 440.000 ursprünglichen Einwohnerinnen und Einwohnern war Anfang 2024 nur noch ein Drittel in der seitdem von russischen Streitkräften kontrollierten Stadt. (Quelle: ZDF)

Wie Zehntausende andere kam auch Liliyas Ehemann bei den Angriffen ums Leben. Zusammen mit ihren Kindern konnte Liliya nach Kiew fliehen. „Mein geliebtes Mariupol hat sich in einen Ort des Grauens, des Schmerzes, der Zerstörung und der vernichteten Träume verwandelt. Ich blickte wie versteinert auf die Ruinen meines Hauses. Ohnmacht ... Totale Apathie ... Schmerz und Wut ..."

In Kiew angekommen, fühlte Liliya, anders als erwartet, keine Erleichterung, sondern wurde von ihren schmerzhaften Erinnerungen übermannt. Schwierigkeiten bei der Anpassung an ihre neue Umgebung, Trauer über den Verlust ihres Mannes und ständige Angst um die Zukunft ihrer Kinder beeinträchtigten ihre mentale Gesundheit zutiefst.

Hinzu kommt, dass auch die Menschen in Kiew seit Beginn des landesweiten Krieges von regelmäßigen Raketenangriffen, Luftangriffs-Alarmen und immer häufigeren Stromausfällen betroffen sind. Liliya konnte es nicht mehr ertragen und wollte schon aufgeben und im Ausland Zuflucht suchen, als Bekannte ihr empfahlen, sich an das Zentrum für mentale Gesundheit und psychosoziale Unterstützung in Kiew zu wenden, das von unserer Partnerorganisation Mental Health Service betrieben wird. Die Spezialisten des Zentrums unterstützten Liliya mit verschiedenen Maßnahmen zur psychischen Genesung und Techniken zur Stressbewältigung. Nach einiger Zeit konnte Liliya wieder ohne Albträume schlafen. Sie lernte, mit ihren schrecklichen Erinnerungen umzugehen, spürte weniger Angst und knüpfte neue soziale Kontakte. Sie beschloss, in Kiew zu bleiben und sich so gut wie eben möglich ein neues Leben aufzubauen – für sich selbst und ihre Kinder.

Jedes Kind in der Ukraine ist betroffen

Die Kinder in der Ukraine stehen aufgrund des Krieges vor zahlreichen Herausforderungen: Viele von ihnen sind vertrieben und müssen sich in ein völlig neues Umfeld integrieren. Das betrifft auch die Schule, in der häufig einige Kinder vertrieben, andere einheimisch sind, einige ihre Eltern zu Hause haben, andere im Krieg und einige Kinder den Verlust eines Elternteils betrauern – unterschiedliche Familiensituationen, die zu Stress und Konflikten führen können.

Hinzu kommt, dass sie mit den alltäglichen Folgen des Krieges zurechtkommen müssen: „Fast jeden Tag gibt es einen Luftangriffsalarm, und die Schülerinnen und Schüler unterbrechen ihren Unterricht und verbringen Stunden in den unterirdischen Schutzräumen. Einige von ihnen kommen mit ihren Gefühlen zurecht, während andere unter Angstzuständen leiden. Leider gibt es in der Ukraine keine Kinder mehr, die nicht vom Krieg betroffen sind und unter den Folgen leiden. Und dieses Thema wird jetzt immer akuter und relevanter“, erklärt Khrystyna Halushchak, Leiterin des Zentrums für psychologische Unterstützung und Beratung der Malteser Ukraine in Lviv in der Westukraine.

 

Um Kinder und Jugendliche zu unterstützen, sind die Spezialisten des Zentrums seit Beginn des Krieges in Bildungseinrichtungen aktiv. „Bei unserer Arbeit mit Kindern, insbesondere in Schulen, führen wir psycho-edukative Aktivitäten durch und bringen den Schülerinnen und Schülern bei, wie sie ihren Stress regulieren können. Wir erklären ihnen, dass Ängste, depressive Verstimmungen oder ungewöhnliche Gefühlsschwankungen nicht einfach verdrängt werden, sondern beachtet und sorgfältig behandelt werden sollten. Wir bringen den Schülern körperorientierte Praktiken bei, die darauf abzielen, ihren psycho-emotionalen Zustand zu regulieren, denn im Körper sammelt sich viel Stress an“, erklärt Psychologin Olena Romanova.

Kinder können mit ihren Eltern die Zentren auch für eine individuelle Beratung aufsuchen, so wie Veronika, 36, die mit ihrer Familie aus der umkämpften Stadt Bakhmut fliehen musste. Ihre Tochter war neun Jahre alt, als sie nach ihrer Ankunft in Kiew die Beratung durch die Spezialisten unserer Partnerorganisation Mental Health Service in Anspruch nahmen.

Sie sagt: „Meine Tochter und ich besuchen das Zentrum gemeinsam. Ich danke den Psychologinnen, die meinem Kind geholfen haben, mit den Folgen des Krieges fertig zu werden. Meine Tochter stand unter ständigem Stress und fühlte sich deprimiert, aber jetzt schläft sie ruhig, schluchzt nachts nicht mehr, ihre Aggressionen sind verschwunden, sie hat angefangen, hier Freunde zu finden und mit Gleichaltrigen zu spielen."

Olena Beredina, Koordinatorin der Psychologinnen und Psychologen im Zentrum der Malteser Ukraine in Charkiw, erklärt, was nach einem Trauma wie dem plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen oder des eigenen Zuhauses geschieht: „Natürlich wird die Welt für uns nicht mehr dieselbe sein, sie wird jetzt anders sein. Der Schock geht vorbei, und nach einer Weile stellt sich ein Gefühl für die Realität ein. Und es ist sehr wichtig, wer in dieser neuen Realität für einen da sein wird, damit man wieder Lust auf Leben bekommt. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem eine Mutter mit ihrer Tochter zu einer Beratung kam. Es stellte sich heraus, dass der Freund der Tochter bei einem Bombenanschlag getötet worden war. Das Mädchen trauerte um den Verlust eines geliebten Menschen, es war ein langer Prozess. Für sie war die Mutter die Person, die während ihrer Trauer für sie da war. Und für mich als Psychologin war es wichtig, mich um beide zu kümmern, sie in diesem Lebensabschnitt zu begleiten, damit jede von ihnen später allein weiter vorankommt.“

Immer mehr Fälle von Soldaten, die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung heimkehren, werden auch zur Belastungsprobe in zahlreichen ukrainischen Familien. Auch hier spielt die Psychoedukation eine wichtige Rolle. „Bei der Arbeit mit Paaren“, erklärt Teresa Gevko, Psychologin bei den Maltesern Ukraine, „halte ich es für notwendig, ihnen zu erklären, mit welchen Symptomen sie rechnen müssen. Warum verhält sich ein Mensch so, wie er es tut, wenn er aus dem Krieg zurückkehrt? Was bedeutet das für das Paar? Wie lange wird es andauern? Wenn man diese Informationen Stück für Stück vermittelt und erklärt, werden junge Menschen oft davon abgehalten, übereilte Entscheidungen zu treffen.

Wiedergewonnene Stärke

Im vergangenen Sommer verlor die 36-jährige Olga aus Kiew bei einem Spaziergang am helllichten Tag ihre 6-jährige Tochter Sophia bei einem Luftangriff. "Einen Monat nach diesem schrecklichen Tag begann ich mit einer Psychologin zu arbeiten", sagt sie. "Diese Unterstützung war sehr wichtig für mich. Ich fühlte mich weniger einsam, da es eine Person gab, die meine Trauer teilte und mit der ich darüber sprechen konnte. Ich erholte mich allmählich, kam zur Besinnung, lernte, auf mich selbst aufzupassen, und erkannte, dass Trauer ein normaler Prozess ist."

Olgas Heilung verdeutlicht, wie wichtig die psychologische Unterstützung nach einem solchen Trauma ist. Wie sie haben viele Menschen Trost und Kraft in den verfügbaren Ressourcen gefunden, was die entscheidende Rolle der psychologischen Dienste bei der Bewältigung von Trauer und dem Beginn des Heilungsprozesses unterstreicht.

Gemeinsam mit unseren Partnern haben wir bereits fast 100.000 Menschen mit mentaler und psychosozialer Hilfe unterstützt. Es ist jedoch klar, dass unsere Arbeit nicht aufhören wird, wenn der Krieg beendet ist – erst dann kann sie richtig beginnen. Denn die täglichen Folgen des Krieges sind eine anhaltende traumatische Situation, sodass es beinah unmöglich ist, Traumata zu heilen, solange der Krieg andauert. In der Zwischenzeit setzen wir von Malteser International und unsere hoch geschätzten Partner ihre Bemühungen fort, eine Verschlimmerung der Situation zu verhindern. Wir stehen dem ukrainischen Volk bei, solange es nötig ist.

 

(August 2024)

Spenden Sie für die Menschen aus der Ukraine!
Jetzt spenden