#WomenHumanitarians: »Vor dem Krieg lebten die Menschen wie wir«
Eva-Lotta Schiermeyer ist bei Malteser International für die Entwicklung und Steuerung des Wiederaufbauprogramms in der Ninewa-Ebene zuständig. Sie hat das Programm von Anfang an begleitet und berichtet im Interview über ihre persönlichen Eindrücke aus der Region.
In der Ninewa-Ebene hat es in den Kriegsjahren große Zerstörungen gegeben: Wie war es für Sie, in ein Gebiet zu reisen, das vom Krieg komplett zerstört wurde?
Eva-Lotta Schiermeyer: Als ich die ersten Male durch die zerstörten Wohnhäuser in den Dörfern und Städten der Ninewa-Ebene lief, waren die Gewalt und ihre schrecklichen Folgen für die Menschen noch sehr gegenwärtig.
Die Zerstörung, die ich mit eigenen Augen sehen konnte, war noch nicht lange her. Ich sah verrußtes Spielzeug, Geschirr, Haarföhne – alles Dinge, die auf ein friedliches Leben der Bewohner hindeuteten, wie auch wir es leben. Ich fragte mich, ob die Menschen die Angriffe überlebt hatten und wie fluchtartig die Familien ihr Zuhause verlassen mussten.
Malteser International hat gemeinsam mit Kirche in Not und der Deutschen Bundesregierung ein umfangreiches Programm zum Wiederaufbau der Region aufgelegt. Was sind die Ziele der Arbeit in der Ninewa-Ebene?
Wir hoffen, dass wir mit unseren Aktivitäten möglichst viele Menschen dazu bewegen können, in ihre Heimat zurückzukehren und sich dort wieder langfristig anzusiedeln. Zu Beginn unserer Arbeit haben wir die Ursachen für das Fernbleiben der Rückkehrer analysiert. Natürlich ist die Zerstörung ihrer Häuser ein Grund. Es fehlen aber auch Schulen und Kindergärten, berufliche Perspektiven für Jugendliche, Einkommensmöglichkeiten sowie Orte der Gemeinschaft und Begegnung. Schließlich hatten jahrelange Anfeindungen und Kämpfe zwischen den vielen ethnischen Gruppen und religiösen Minderheiten das Klima in den Gemeinden belastet. Für alle diese Probleme versuchen wir Lösungsansätze zu entwickeln.
Was macht das Programm für Sie besonders?
An dem Programm gefällt mir besonders, dass wir ein multisektorales Zusammenspiel aus Aktivitäten entwickeln konnten, das Lösungsansätze für alle diese verschiedenen Ursachen vereint. Neben dem Häuserbau bieten wir den Menschen jetzt auch Maßnahmen an, die ihnen helfen, wieder ein eigenes Einkommen zu erzielen, mit dem sie ihre Familien ernähren und ihre Kindern eine gute Bildung ermöglichen können. Wir unterstützen Aktivitäten der interkulturellen Freizeitgestaltung wie beispielsweise Fußball und gemeinsames Musizieren, um ein friedliches Miteinander der Gemeinden zu fördern.
Unsere Maßnahmen sollen nachhaltige Impulse setzen, damit die Rückkehrer wieder ein unbelastetes Gefühl von Heimat entwickeln können. Beiallen Maßnahmen beziehen wir die Rückkehrer direkt mit ein. Zum Beispiel helfen sie beim Wiederaufbau von Häusern, Gemeindezentren und Wasserkanälen in ihren Heimatorten und erhalten dafür Geld von uns. Die Cash-for-Work-Maßnahmen geben ihnen heute schon ein Gefühl von Teilhabe und stiften Identität.
Wie entscheiden Sie über die Verteilung der finanziellen Mittel?
Die Mittel, die wir einer Gemeinde für den Häuserbau bereitstellen können, sind limitiert. In der Regel können wir nur einen Teil der Häuser reparieren. In jeder Gemeinde ermitteln wir daher die Haushalte, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Das sind meist Witwen, ältere Menschen, Familien mit Angehörigen mit Behinderungen, oder Familien mit vielen Kindern und geringem Einkommen.
Dann stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die Reparaturen geplant werden sollen: Reparieren wir zum Beispiel zunächst die weniger beschädigten Häuser oder die komplett zerstörten Häuser? In einer Region konnten wir die Gemeinden diese Entscheidungen selbst treffen lassen. Ihre Partizipation und die frühzeitige Übernahme von Verantwortung sind unserer Meinung nach wichtig für die Akzeptanz und den langfristigen Erfolg des Projekts.
Gibt es besondere Herausforderungen bei der Umsetzung des Programms?
Es gibt viele und ständig neue! Eine Gemeinde beispielsweise lehnte unsere Hilfe ab. Mit der Begründung: Das Dilemma, dass nicht alle Häuser repariert werden, würde das soziale Gefüge ihrer Gemeinde ins Ungleichgewicht bringen. Mir bereitete es Sorgen, dass wir so diesen Haushalten in der Gemeinde nicht helfen konnten. Ihnen Hilfe zukommen zu lassen, würde meinem persönlichen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit entsprechen. Dennoch musste ich die Entscheidung der Gemeinde und ihre Vorstellung von Gerechtigkeit akzeptieren. Es hilft mir, dass mir die Menschen nachdrücklich versicherten, dass die Solidarität, die sie in ihrer Gemeinde leben, es nicht zulassen würde, die schwachen Mitglieder ihrer Gemeinde allein auf sich gestellt zu lassen.
Die Projekte werden von Malteser International nicht in Eigenregie, sondern mit lokalen Partnern vor Ort umgesetzt. Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort?
(Lacht) Ohne unsere Partner wären wir nichts! Ich finde es schön, wie warmherzig die Arbeitsbeziehungen hier gelebt werden und wie engagiert die Organisationen aus den unterschiedlichen Sektoren für den Wiederaufbau arbeiten – auch wenn es manchmal frustrierende Phasen für sie gibt. Auf unseren sektorübergreifenden Workshops tauschen sich unsere Partner neugierig über ihre Erfahrungen aus. Dort merken sie noch einmal mehr, dass sie einen wichtigen Beitrag zu einem großen Ganzen leisten. Das motiviert uns alle ungemein.
Das Interview wurde geführt von Susanna Cho. Mai 2019.