Die Hand ihrer Oma ließ sie nicht los
Bereits der Name der Klinik gleich hinter dem türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al Salam ist ein besonderer: Dr. Muhammed Wasim Maaz Hospital. Doktor Maaz war ein Kinderarzt in Aleppo und starb im Alter von 36 Jahren bei einem Luftangriff auf ein Krankenhaus am 27. April 2016. Zwischen dem Beginn des Krieges 2011 und März 2024 starben laut Physicians for Human Rights 949 medizinische Fachkräfte in Syrien, mehr als 90 Prozent von ihnen während ihrer Arbeit in einer Gesundheitseinrichtung.
Die nach Doktor Maaz benannte Klinik, betrieben von der syrischen Organisation IDA und unterstützt von Malteser International, ist aber nicht nur ein Denkmal für einen im Krieg ermordeten Arzt. Sie ist der Rettungsanker für rund 1,5 Millionen Menschen in der Region, die hier eine medizinische Versorgung bekommen, wie es sie im weiteren Umkreis von 20–30 Kilometern nicht noch einmal gibt. Rund 60 Prozent von ihnen sind Geflüchtete.
12 Stunden unter Trümmern
Im Krieg verlor die 14-jährige Hala Kadour einen Bruder. Drei weitere Geschwister, ihre Tante und die Großmutter starben unter den Trümmern der Wohnung, als das vierstöckige Haus beim Erdbeben 2023 über ihnen zusammenbrach. „Als die Erde zu beben begann, rief mein Vater, dass ich aus dem Haus rennen sollte, aber ich lief zurück, denn mein kleiner Bruder war noch dort und meine Oma. In dem Augenblick brach das Haus zusammen.“ 12 Stunden brauchten die Helferinnen und Helfer, um sie aus den Trümmern zu bergen. Während der gesamten Zeit hielt sie die Hand ihrer Großmutter fest, doch diese überlebte nicht. Halas linke Körperhälfte war zertrümmert und sie hatte zahlreiche Brüche.
Als Hala Kadour nach dem Erdbeben in die Klinik eingeliefert wurde, dachten die Ärztinnen und Ärzte nicht, dass sie ihren Arm retten könnten. Zwei Monate lang lag sie auf der Intensivstation. Heute, rund eineinhalb Jahre später, kann die 14-Jährige ihre Hand wieder bewegen, auch ihr Fuß ist trotz der zahlreichen Knochenbrüche wiederhergestellt.
In ihrem bisherigen Leben hat Hala nur Krieg und Vertreibung kennengelernt, denn die Kämpfe begannen, als sie noch ein Baby war, vor mehr als 13 Jahren. „Ich bin in Idlib geboren, in Saraqip, aber als der Krieg ausbrach, ist meine Familie mit mir und meinen Geschwistern nach Jindires geflohen.“ Dort wurde sie während des Erdbebens auch verschüttet.
„In ihrer Hand und in ihrem Fuß hatte sie zahlreiche Brüche, und auch die Muskeln waren zerstört. Sie lag zwei Monate bei uns in der Klinik und konnte sich anfangs nur im Rollstuhl fortbewegen. Mittlerweile ist sie fast vollständig wiederhergestellt. Sie hat nur noch einige neurologische Probleme in ihrer Hand, weshalb sie noch zweimal in der Woche zur Physiotherapie kommt“, erklärt Doktor Abdulhannan Jouja, der sie damals behandelt hat.
Weil Hala noch regelmäßig in die Klinik muss und die Wohnung der Familie in Jindires zerstört ist, leben sie jetzt in Azaz, in der Nähe des Krankenhauses. Wieder einmal muss Hala von vorne beginnen.
„Meine Eltern erzählen mir häufig, wie es war, als noch kein Krieg in Syrien war, und ich stelle es mir wunderbar vor. Alle Verwandten wohnten damals in der Nähe und sie konnten sich besuchen. Jetzt leben alle verstreut in vielen Ländern. Manche in Libyen, in Saudi-Arabien, in der Türkei. Als wir zum ersten Mal unser Zuhause verlassen mussten, fühlten wir uns als Geflüchtete. Aber dann kamen wir in Jindires an einen Ort, wo wir andere Menschen kannten, und wir fingen an uns zuhause zu fühlen. Doch als das Erdbeben geschah, wurde alles wieder auf Anfang gestellt. Jetzt leben wir nur noch zu viert in Azaz, haben wieder alles verloren und die restliche Familie ist tot“, sagt Hala.
Trotz aller Verluste hat Hala sich nach dem Erdbeben zurück ins Leben gekämpft. Mithilfe der Ärztinnen und Ärzte, der Physiotherapeutinnen und -therapeuten - und mit ihrem eisernen Willen. Wenn sie erwachsen ist, sagt sie noch, möchte sie Ärztin werden. Die Zeit im Krankenhaus hat die 14-Jährige geprägt.
Eine von rund sieben Millionen
An ihre Flucht kann sich die 62-jährige Najah Hantosh noch gut erinnern. Damals war sie 50 Jahre alt und bereits Witwe mit drei Kindern. So wie mehr als sieben Millionen Menschen in Syrien lebt sie heute als Geflüchtete im eigenen Land. Vor dem Krieg lebte auch sie, wie Doktor Muhammed Wasim Maaz, in der Stadt Aleppo. „Mein Leben war auch schon vor dem Krieg schwierig. Mein Mann und einer meiner Söhne starb. Ich habe als Tagelöhnerin gearbeitet und gemacht, was gerade an Arbeit zu machen war. Ich habe drei Kinder, zwei davon leben mit einer geistigen Einschränkung. Aber mit dem Krieg wurde unser Leben noch schwieriger. Als die Bomben fielen und es immer schwieriger wurde, Geld zu verdienen, beschloss ich, zu gehen. Ich konnte nur einmal Kleidung zum Wechseln mitnehmen, dass war es. Als ich hier ankam, schliefen meine Kinder und ich zunächst auf dem nackten Boden“, erklärt Najah Hantosh. Das war 2012. Nach und nach gaben verschiedene Hilfsorganisationen ihr das Nötigste zum Leben für sich und ihre Kinder.
Die Klinik, die 2014 aus einer ehemaligen Lagerhalle entstanden ist, ist mittlerweile ein besonderer Ort für sie. Nicht nur, dass sie dort ihre Magenprobleme behandeln lassen kann. Im Krankenhaus kann Najah Hantosh auch immer mal wieder etwas Geld verdienen. Sie kümmert sich im Erdgeschoss, in einem kleinen separaten Raum, um die Kinder des medizinischen Personals, die mit in die Klinik genommen werden, zum Beispiel, wenn die Mütter noch stillen. Das hilft ihr dabei, über die Runden zu kommen. Viele Kinder muss sie derzeit allerdings nicht betreuen.
Nach mehr als 13 Jahren Krieg hat Najah Hantosh keine Hoffnung auf Frieden und eine Rückkehr in ihre alte Heimat mehr. Aber mittlerweile hat sie hier im Camp, gleich neben dem Muhammed Wasim Maaz Hospital eine neue Heimat gefunden.