Erdbeben in Syrien, ein Jahr später: „Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Not, die die Erdbeben-Tragödie hinterlassen hat, größer.“
Ein Jahr nach dem Erdbeben ist die Not der Menschen nach wie vor groß, denn es hat sich seit der Katastrophe nur sehr wenig getan. Städte und Dörfer sind voller Trümmer, statt wieder aufgebauter Häuser prägen Notunterkünfte das Bild. Fast alle Menschen hier sind traumatisiert und leben in ständiger Angst vor dem nächsten Beben. Und die Erde bebt häufig hier in Nordwest-Syrien, wenn auch seitdem nicht mehr mit einer Stärke wie im Februar 2023. Mitarbeitende unserer Partnerorganisationen vor Ort haben mit Betroffenen gesprochen.
“Dieses Erdbeben ist die schlimmste Katastrophe in der Region, die ich in 80 Jahren erlebt habe.“
Gestützt auf den Arm einer Mitarbeiterin unserer Partnerorganisation Hand in Hand for Aid and Development kehrt Khatmah Al-Issa mit langsamen Schritten zurück in das Zelt, das seit fast einem Jahr ihr Zuhause ist. Täglich kümmert sich die Mitarbeiterin um die alte Dame, besucht sie auch in ihrem Zelt, das sich in einem Camp für Vertriebene nahe des kleinen Ortes Kafr Arouq in Nordwest-Syrien befindet. Vor der Katastrophe hatte Khatmah Al-Issa mit Tochter und Schwiergersohn zusammen gelebt, die nach dem Beben nach Aleppo zogen. Sie selbst hat es nicht geschafft, ihr Haus zurückzulassen aus Angst, es dann endgültig zu verlieren. Nun ist sie ganz auf sich gestellt. Um ihre Gesundheit ist es seit dem Beben und dessen Folgen schlecht bestellt, besonders die Winter im Camp sind eine Herausforderung. Sie ist deshalb ein häufiger Gast im nahegelegenen Kafr Arouq Medical Center, das von unserer Partnerorganisation HIHFAD betrieben wird. Dort erhält sie nicht nur Medikamente, sondern auch ebenso lebenswichtigen zwischenmenschlichen Kontakt. Sie sagt: “Es gibt einen großen Bedarf für grundlegende Gesundheitsdienste hier, und die Camps müssen unbedingt darin unterstützt werden, diese anbieten zu können. Für viele Senioren wie mich ist der Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung lebenswichtig.“
„Mein lebenslanger Traum ist es, dass Kinder in Sicherheit vor Kriegen und Erdbeben leben können.“
Areej ist klein für ihre 15 Jahre. Sie leidet unter einer Wachstumsstörung, wegen der sie viele Medikamente nehmen muss. Solange sie denken kann, kennt sie nichts als ein Leben im Krieg. Dann kam das Erdbeben, das wie ein Albtraum für das junge Mädchen war, auch wenn sie und ihre Familie Glück hatten: Als in der Nacht die Wände ihres Hauses zu wackeln begannen, sind sie um ihr Leben gerannt, hinaus in den starken Regen dieser Nacht, und sie haben es alle geschafft. Erst am nächsten Morgen erfuhren sie, wie viele ihrer Nachbarn diese Nacht nicht überlebten.
Aus Angst vor Nachbeben verbringt Areej bis heute die meisten Nächte mit ihrer Familie in einem Zelt, das ihr Vater im Zuge der Nothilfe erhielt. Er baute es neben ihrem beim Beben beschädigten Haus auf, sodass sie es jederzeit schnell erreichen können. Wie so viele Familien warten auch sie noch auf finanzielle oder praktische Unterstützung, um ihr Haus reparieren zu können. Alleine können sie die Reparatur nicht stemmen.
Areejs großer Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu können, denn die zusätzlichen Ausgaben, die durch das Erdbeben für die Familie entstanden sind, reichen schon lange nicht mehr für ihr Schulgeld. Zudem sind viele Schulen bis heute zerstört. Areej ist sicher, dass die Folgen des Erdbebens für viele Kinder und Jugendliche wie sie noch lange spürbar sein werden.
Es war wie ein Wunder, als Maryam ihren Enkel fand
Ende Januar 2023 war Maryam Ahmed Al-Badawi im Großmutter-Glück: Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter hatten ein Baby bekommen, einen süßen Jungen namens Abdul Hasib. 14 Tage später rettete Maryam ihren Enkel aus den Trümmern ihres Hauses. Dass das kleine Baby überlebt hatte, kam ihr damals wie ein Wunder vor. Ihr Sohn war tot und ihre Schwiegertochter so traumatisiert, dass sie sich nicht um das Baby kümmern konnte. Seitdem bilden Großmutter und Enkel ein unzertrennliches Team.
Inmitten der Tragödie wurden Maryams Liebe und Hingabe zu Abdul Hasibs Leitstern. Abends erzählt sie ihm Geschichten über seine Familie, und sie hofft, dass er eines Tages stolz darauf sein wird, wer seine Vorfahren waren und welche Herausforderungen sie als Familie gemeistert haben. Abdul Hasib ist nun fast ein Jahr alt und ein gesunder, fröhlicher kleiner Junge. Aber die Herausforderungen für seine Familie und die Menschen in seiner Region sind noch lange nicht überstanden.
Wie in Maryams Familie sind viele Männer, die in Syrien meistens die Hauptverdiener sind, beim Erdbeben ums Leben gekommen. Frauengeführte Haushalte unterstützen wir daher mit Schulungen zur Gründung von Kleinunternehmen, um zusätzliches Einkommen zu schaffen.
Allen Widrigkeiten zum Trotz: Halas Weg zur Mutterschaft
Hala wird den 7. Juni 2023, fast vier Monate nach dem verheerenden Erdbeben, niemals vergessen. Im neunten Monat schwanger mit Zwillingen, wurde sie von einer doppelten Tragödie heimgesucht: Der erste Fötus befand sich in einer für die Geburt ungünstigen Position, und der zweite war bereits verstorben. Hinzu kam, dass die Region im Nordwesten Syriens, in der sie lebt, schwer bombardiert wurde.
Trotz dieser Umstände brachte die 35-jährige Syrerin an diesem Tag ein gesundes Baby zur Welt. Inmitten der anhaltenden Bombardierungen leistete die von unserer Partnerorganisation SAMS betriebene Entbindungsklinik weiterhin lebenswichtige Hilfe. Dr. Nawal Shahwan stellte an diesem Tag sicher, dass es sowohl Mutter als auch der Neugeborenen gut ging. Nach einer gründlichen Untersuchung wurden Hala und ihr Baby wohlauf entlassen.
Hala erzählt: "Ich hatte zweimal Angst, mein Kind zu verlieren – zuerst während des Erdbebens, als das Dach unseres Hauses über uns einstürzte. Durch Gottes Gnade haben wir überlebt. Das zweite Mal passierte es während der Bombardierung, als ich kurz vor der Entbindung stand. Trotz aller Widerstände haben mein Kind und ich auch dieses Mal unversehrt überlebt."
Hala ist nur eine von vielen Frauen in Syrien, die während ihrer Schwangerschaft großen Herausforderungen ausgesetzt sind. Der anhaltende Konflikt und die Folgen der Erdbeben stellen sowohl für werdende Mütter als auch für ihre Kinder ein erhebliches Risiko dar. Gemeinsam mit unserem Partner vor Ort sorgen wir für sichere Geburten in einer Entbindungsklinik im Nordwesten Syriens. Diese Klinik bietet Frauen wie Hala eine grundlegende Versorgung und sorgt dafür, dass sie auch inmitten von Chaos und Zerstörung die Freude der Mutterschaft erleben können.
Die Geschichten von Maryam, Abdul Hassib, Khatmah Al-Issa, Areej und Hala stehen stellvertretend für viele Menschen im Nordwesten Syriens, die nach wie vor aufgrund des Erdbebens und seiner Folgen in Angst leben. Sie leben in Zelten oder in Häusern, die nicht erdbebensicher und vielfach beschädigt sind. Es mangelt an Geld, Jobs, Bildung und medizinischer Versorgung, und vor allem in den Camps zunehmend auch an Wasser und Lebensmitteln. Dazu kommt die ständige Bedrohung durch den anhaltenden Krieg. Umso bemerkenswerter ist die Widerstandsfähigkeit, die den Menschen noch geblieben ist, und mit der sie Tag für Tag das Leben in der Krise bewältigen.
Weitere Stimmen von Menschen aus dem Erdbebengebiet
Leider können wir hier nicht alle Geschichten erzählen, die uns von unseren Kolleginnen und Kollegen vor Ort berichtet wurden. Aber wir möchten zum Abschluss noch ein paar Menschen zu Wort kommen lassen:
Haifa Ahmed Hassan verlor beim Beben ihr Zuhause, ihren Schwager, ihre Schwester und deren sechs Kinder. Ihr blieb keine Zeit für Trauer, sie musste weiterarbeiten, denn sie muss nun sich und ihre Eltern allein versorgen: „Nach dem Erdbeben erhielten die Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, keine Kompensation und es wurden auch keine Initiativen gestartet, um die Häuser wieder aufzubauen. Die Menschen hier haben aber nicht die Möglichkeit, ihre Häuser selbst wieder zu errichten oder auch nur die Kosten zu stemmen, die Vertreibung, der Verlust von Familienmitgliedern oder ihres Zuhauses verursacht haben.“
Abdulrahman Hammada lebt im selben Dorf wie Areej. Er hat nach dem Beben seinen Job im Bildungssektor verloren: „Es ist schwer für mich, einen sicheren Ort für mich und meine sieben Kinder zu finden. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Not, die die Erdbeben-Tragödie hinterlassen hat, größer. Der größte Bedarf ist die Schaffung von Arbeitsstellen.“
Abu Ammar war sechs Jahre zuvor von Bomben aus seiner Heimat südlich von Idlib nach Jandaires vertrieben worden. Nun wurde sein neues Haus durch das Beben zerstört: „Wir haben die langen Jahre des Krieges durchgehalten und uns angestrengt, um ein neues Leben aufzubauen. Heute, ein Jahr nach dem Beben, leben wir ein einem Camp, wo uns die grundlegendsten Dinge fürs Leben fehlen.“ Wir konnten Abu Ammars Familie mit medizinischen Hilfspaketen unterstützen. Das Camp braucht jedoch dringend weitere Hilfe, vor allem die Unterstützung mit Lebensmitteln wird durch fehlende Finanzierung immer unzureichender.
Wir halfen und helfen gemeinsam mit unseren lokalen Partnerorganisationen IDA, HIHFAD, SAMS, TRC, SARD, Orange und Shafak in Syrien und in der Türkei den betroffenen Menschen mit verschiedenen Aktivitäten, vom Betrieb von Kliniken über die Verteilung von Hygienepaketen und Decken bis hin zur Förderung von Start-Ups. Unter den einkommensschaffenden Maßnahmen unterstützen wir in besonderem Maße landwirtschaftliche Projekte und frauengeführte Haushalte mit Geld, Trainings, Saatgut und anderen Materialien. Mit unseren Partnern helfen wir ebenso beim Wiederaufbau der Wasserversorgung zum Beispiel durch die Errichtung von Wassertürmen und Brunnen.