Sechs Monate nach dem Beben: Betroffene berichten
Ein halbes Jahr ist seit dem Erdbeben in Syrien und der Türkei bereits vergangen. Noch immer leidet die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten unter den verheerenden Folgen der Katastrophe. Durch den seit zwölf Jahren anhaltenden Krieg war die Situation im Nordwesten Syriens bereits vor der Katastrophe desolat. Dass sich das Leben der Menschen in der Region – geprägt von Vertreibung, Gewalt und unmenschlichen Lebensbedingungen – weiter verschlechtern könnte, hätte kaum jemand geglaubt. Dann bebte die Erde am 6. Februar. Der Bedarf der schon vor dem Erdbeben dringend auf humanitäre Unterstützung angewiesenen Bevölkerung vervielfachte sich exponentiell.
Bilal Al-Kurdi – Den Menschen im Nordwesten Syriens das Lächeln zurückbringen
„Sechs Monate sind seit dem Erdbeben vergangen. Noch immer müssen Trümmer von zerstörten Gebäuden und Infrastruktur beseitigt werden – ganze Städte wurden am frühen Morgen des 6. Februars durch das Beben zerstört. Neben den physischen Auswirkungen sind es vor allem auch die unsichtbaren, die psychischen Wunden, die Zeit brauchen, um zu heilen. Noch vor einigen Monaten, als wir die verwüsteten Städte besuchten, sahen wir nur zerstörte Häuser. Jetzt, nach mehreren Monaten, sehen wir ganze Zeltstädte. Und so geht es weiter: Wenn die Trümmer der zerstörten Gebäude beseitigt sind, werden neue Zelte für die Überlebenden errichtet“, berichtet Bilal Al-Kurdi, Mitarbeiter unserer syrischen Partnerorganisation Hand in Hand for Aid Development (HIHFAD).
Die Zerstörung in den betroffenen Gebieten im Nordwesten Syriens ist kaum in Worte zu fassen. Viele Menschen stehen vor dem Nichts, haben alles verloren, was sie je besaßen, und trauern um den Verlust von Familienmitgliedern, Freundinnen, Freunden oder Bekannten. „Gemeinsam und dank der Unterstützung von Malteser International versuchen wir das Leid der vom Erdbeben betroffenen und vertriebenen Menschen zu lindern: Wir verteilen Lebensmittel, Brot, Wasser, Heizmaterial und Hygieneartikel, um eine Grundversorgung zu gewährleisten. Aber der Bedarf an humanitärer Hilfe ist angesichts der bestehenden Katastrophe leider so groß, dass eine kontinuierliche internationale Zusammenarbeit nötig ist. Wir dürfen die Menschen hier nicht vergessen und müssen ihnen weiter beistehen", erklärt Bilal Al-Kurdi.
„Wie sehr wünsche ich mir den Tag, an dem der Krieg in Syrien zu Ende ist und wir mit dem Wiederaufbau dessen beginnen können, was durch den Krieg und das Erdbeben zerstört wurde, um das Lächeln in die Gesichter der vier Millionen Menschen zurückzubringen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und im Nordwesten Syriens leben“, sagt Bilal Al-Kurdi.
Aisha Al-Ahmad – Leuchtturm der Hoffnung für Menschen in Not
Auch 66 medizinische Einrichtungen und 419 Bildungseinrichtungen wurden bei dem Beben in unterschiedlichem Maße beschädigt (Quelle: Syria Response Team). Die Helferinnen und Helfer in den Gesundheitseinrichtungen zählen selbst zu den Betroffenen – und helfen dennoch, wo sie können. Eine von ihnen ist Aisha Al Ahmad, die als Krankenschwester für unsere Partnerorganisation Independent Doctors Association (IDA) arbeitet.
Aisha und ihre Familie mussten während des Bebens Zuflucht an einem sicheren Ort suchen. Unter einem bröckelnden Dach zusammengekauert, harrten sie aus, während sie die lauten Geräusche einstürzender Wände und die verzweifelten Schreie um sich herum hörten. Nachdem ihre Familie an einen sichereren Ort gebracht worden war, kehrte Aisha wieder zu ihrer Arbeit zurück: Das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, war inmitten des Chaos zu einem Zufluchtsort geworden, an dem vom Erdbeben Betroffenen medizinisch betreut wurden.
Der Zustrom von Patienten aus dem Erdbebengebiet brachte die Einrichtung an ihre Grenzen und stellte die Belastbarkeit des Personals auf eine harte Probe. Angesichts der ständig wachsenden Zahl von Patientinnen und Patienten arbeitete Aisha unermüdlich Tag und Nacht, um Wunden zu versorgen, Medikamente zu verabreichen und denjenigen, die alles verloren hatten, ihr Mitgefühl zu zeigen. In diesen schwierigen Zeiten bleiben Aisha und ihre Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitswesen Leuchttürme der Hoffnung für Menschen in Not.
Doktor Ayman Mari – Die psychische Belastung ist auch Monate später noch hoch
Einer von ihnen ist auch Doktor Ayman Mari, der für unsere Partnerorganisation HIHFAD im Al-Quds-Krankenhaus in Idlib arbeitet. Er berichtet von den chaotischen Tagen nach dem Beben: „Die medizinischen Einrichtungen reichten nicht aus, um die große Zahl der Verletzten zu versorgen. Hinzu kam, dass die Medikamente knapp wurden und qualifiziertes medizinisches Personal fehlte.
Seit der Katastrophe sind Wochen und Monate vergangen, und die Herausforderungen haben gezeigt, dass die Mitarbeitenden trotz der bescheidenen Möglichkeiten viel zu leisten vermögen." Die Situation bleibe weiterhin schwierig, insbesondere die Versorgung der Menschen mit schweren Verletzungen sei eine Herausforderung. „Wir sehen, dass es eine große Zahl von Menschen mit Behinderungen gibt, die eine besondere medizinische Versorgung benötigen, beispielsweise Menschen, die nach Amputationen Prothesen brauchen. Es gibt jedoch kaum Zentren, die auf die Herstellung und den Einbau von Prothesen oder auf Physiotherapie für Verletzte spezialisiert sind.“
Und auch Doktor Ayman Mari selbst leidet noch immer unter den Folgen des Bebens: „Für mich persönlich hat das Erdbeben zu großem psychischem Stress geführt. Zusätzlich zu den negativen Auswirkungen auf meine Familie kommt noch die Angst vor einem neuen Erdbeben, da die Nachbeben bis heute andauern.“
Ahmed Sadiq – Das Erdbeben hat das Leben noch schwieriger gemacht
Für die Betroffenen sind Menschen wie Bilal Al-Kurdi, Aisha Al-Ahmad und Doktor Ayman Mari ein Segen. Ahmed Sadiq ist einer von ihnen und aufgrund einer chronischen Krankheit dringend auf Medikamente angewiesen. Das Erdbeben hat sein Leben noch härter gemacht, da sein Haus schwer beschädigt und größtenteils zerstört wurde, wodurch es unbewohnbar wurde. Aufgrund der enormen Reparaturkosten und seiner begrenzten finanziellen Mittel ist Ahmed nicht in der Lage, sein Haus zu restaurieren.
Er beschloss in einem Camp in der Nähe der Stadt Bardaqli Zuflucht zu suchen, das eigens für diejenigen eingerichtet wurde, die durch das Erdbeben obdachlos geworden sind. In den Camps fehlt es an grundlegenden sanitären Einrichtungen, sauberem Wasser und ausreichender Nahrung. Trotz der bitteren Kälte und den schwierigen Lebensbedingungen erträgt Ahmed die Situation. Allerdings leidet er unter dem Mangel angemessener Ernährung und der für seine Gesundheit dringend benötigten Ruhe.
Der 57-jährige besucht regelmäßig das Al-Quds-Krankenhaus, um seinen Gesundheitszustand im Blick zu behalten. Er ist den medizinischen Teams in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren zutiefst dankbar für ihre unermüdlichen Bemühungen um die medizinische Versorgung und hofft auf bessere Zeiten. Die Zahl der Menschen, die im Nordwesten Syriens vom Erdbeben betroffen sind, beläuft sich auf mehr als 1,2 Millionen. Sie benötigen weiterhin dringend medizinische und humanitäre Hilfe - sowie endlich Stabilität und wirtschaftliche Möglichkeiten für den Wiederaufbau.
August 2023