Wenn Helfende zu Betroffenen werden - Humanitäre Helferinnen und Helfer berichten vom Erdbeben
Als im vergangenen Jahr die Erde in der Türkei und in Syrien bebte, waren unter den Millionen Betroffenen auch die Mitarbeitenden der Hilfsorganisationen, die sich in der Region vornehmlich um die syrischen Geflüchteten auf beiden Seiten der Grenze kümmern. Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie nicht nur Helfende nach einer solchen Naturkatastrophe waren, sondern selbst mittendrin steckten. Viel Zeit blieb ihnen jedoch nicht, um das Erlebte zu verarbeiten, denn bereits kurze Zeit nach dem Beben mussten sie die Menschen versorgen, die ihr Zuhause und ihre Angehörigen verloren hatten.
"Erst dachte ich, dass ich überfallen werde."
Najad Sheikh war während des Erdbebens in Gaziantep in der Türkei und arbeitete damals für UNICEF. Seit vergangenen Sommer ist sie Länderbüroleiterin für Malteser International:
„Erst dachte ich, dass ich überfallen werde. Mein Bett wackelte, es war mitten in der Nacht. Und ich dachte, wer rüttelt an meinem Bett? Aber dann verstand ich, dass es ein Erdbeben war. Ich hatte schon mal als Kind ein Erdbeben erlebt, aber noch nie so eines wie dieses. Ich habe in meiner Heimat Somaliland als Kind einen Krieg erlebt. Aber nichts Vergleichbares wie dieses Erdbeben. Ich dachte nur ‚Lieber Gott, lass mich nicht allein sterben, lass mich meine Familie noch einmal sehen.‘ Dann brachte ich mich im Türrahmen in Sicherheit. Als das Erdbeben vorbei war, schaute ich nach draußen und alle Menschen rannten schreiend über die Straße. Es gab Eisregen, es war bitterkalt. Ich zog mich an und wurde nach einem kurzen Telefonat von einem Fahrer ins Büro von UNICEF gebracht, wo ich damals noch arbeitete. Ich dachte, ich bin hier, weil ich Nothilfe für die Menschen in Syrien leiste. Aber plötzlich war ich selbst Teil dieser Nothilfe und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Doch ich fing an, unsere Kolleginnen und Kollegen in Syrien anzurufen und zu fragen, wie es ihnen geht und ob sie arbeiten könnten. Und ab dann habe ich vier Tage lang durchgearbeitet. Ich schlief mit den anderen Mitarbeitenden im Büro und arbeitete quasi rund um die Uhr. Zeit, mich um mein eigenes Trauma zu kümmern, blieb da nicht.“
„Wie durch ein Wunder haben meine Mutter, meine Schwester und meine Nichte überlebt.“
Hayriye Yalim arbeitet seit 2016 für Malteser International und war während des Erdbebens Programmkoordinatorin in unserem Büro in Gaziantep, Türkei. Ab März 2024 wird sie in unser Büro nach Pakistan wechseln:
„An vieles, was direkt während des Erdbebens passierte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ist einfach weg, ausgeblendet. Als das Erdbeben geschah, war ich mit meinem Mann in Gaziantep. Uns war sofort klar: Wenn wir hier das Erdbeben bereits so stark spüren, dann wird es in meiner Heimatstadt Antakya verheerend sein (Anmerkung der Redaktion: Antakya ist aufgrund seiner geografischen Lage besonders gefährdet.) Wir haben uns sofort ins Auto gesetzt, um zu meinen Eltern zu fahren, aber auf den Straßen herrschte Chaos. Wir haben Stunden im Stau gestanden, bis wir mein Elternhaus erreichten. Wie durch ein Wunder haben meine Mutter, meine Schwester und meine Nichte überlebt. Doch mein Vater blieb unter den Trümmern. Wir haben vier Tage lang gehofft, ihn lebend zu bergen. Doch am Donnerstag wurde er tot aus den Trümmern geborgen. Ich liebe meinen Mann, aber mein Vater war meine erste große Liebe. Ich vermisse ihn sehr. Wir haben ihn noch am selben Tag beerdigt. Und als er beerdigt war, habe ich gedacht: So, jetzt musst du umdenken. Du bist eine humanitäre Helferin. Und dann kamen die Kolleginnen und Kollegen aus Köln von Malteser International. Und ich dachte: ‚Dies ist meine Familie.‘ Und ich sagte: ‚Wie kann ich helfen?‘ Und dann fing ich wieder an zu arbeiten. Die Arbeit hat mir dann dabei geholfen, mein Leid zu überdecken. Dadurch, dass ich gesagt habe: ‚Lass uns den anderen Menschen helfen‘, konnte ich meinen Schmerz vergessen. Das war letztendlich mein eigener Weg der Behandlung. Ich fange erst jetzt an, mit meiner Familie über das Erdbeben zu sprechen. Ganz langsam. Bis heute habe ich Angst davor, dass es wieder ein Erdbeben geben wird. Bereits, wenn jemand am Tisch wackelt, erschrecke ich mich.“
"Nachdem meine Frau in Sicherheit war, fühlte ich die Verantwortung in meinem Herzen: Ich musste etwas tun."
Mustafa Sengül war während des Erdbebens in Gaziantep, von wo aus er die Arbeit des Turkish Red Crescent (TRC) koordinierte. Er zeigte unserem Nothilfeteam wenige Tage nach dem Beben die Schäden in der Stadt und koordinierte die weitere Zusammenarbeit zwischen unseren Organisationen:
„In dieser Nacht hörte ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben weinen. Das hat mich tief bewegt. So etwas wie in dieser Nacht haben wir in der ganzen Region noch nie zuvor erlebt. Wir konnten nichts tun. Wir konnten nur beten. Meine Frau weinte. Meine Verantwortung war es, meine Familie zu beschützen. Aber ich konnte nichts tun. Das Beben dauerte so lange, länger als eine Minute. Es fühlte sich endlos an. Ich dachte, das Haus stürzt ein. Nach zehn Minuten schafften wir es, uns in unserem Auto in Sicherheit zu bringen. Meine Frau konnte nicht sprechen. Sie fühlte ihre Zunge nicht mehr und wollte Wasser. Aber wir hatten kein Wasser. Also gab ich ihr Schnee vom Straßenrand. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Ich habe viele Katastrophen in Syrien mit angesehen. Aber ich dachte nie, dass mir so etwas passieren könnte. Eine Stunde nach dem Erdbeben, nachdem meine Frau in Sicherheit war, fühlte ich die Verantwortung in meinem Herzen: Ich musste etwas tun. Ich sagte meiner Familie, dass die Menschen, die schwerer getroffen waren als wir, mich jetzt brauchen würden. Ich fuhr ins Büro und begann zu arbeiten. Vier Tage lang habe ich nicht geschlafen. Überall waren Menschen auf den Straßen, weinten. Sie brauchten Decken, denn es war kalt und sie waren direkt aus dem Bett auf der Straße gelandet. Wir verteilten Kleidung, Decken, stellten Zelte auf. Ich glaube, wenn ich in dieser Zeit nicht hätte arbeiten können, wäre es mir psychisch schlechter gegangen. Ich habe gemerkt, es gibt einen Unterschied zwischen der Theorie und der Praxis. Als das Haus hier einstürzte und die Menschen draußen standen und weinten, da wollten sie keine Suppe, keine warmen Decken. Sie fragten: Wo ist mein Vater, wo ist meine Mutter? Aber wir sind nicht ausgebildet, Menschen aus den Trümmern zu retten. Ich fühlte mich hilflos. Wenn ich heute auf die Trümmer schaue, werde ich immer wieder an diese Nacht erinnert.
Das Erdbeben hat meinen Blick auf die Zukunft komplett verändert. Zuvor habe ich mir Gedanken über eine neue Wohnung gemacht, ein neues Auto. Daran denke ich nicht mehr. Ich denke daran, wie ich weitergelebt hätte, wenn meine Frau gestorben wäre. Vor dem Erdbeben haben wir abends Filme geschaut. Dass machen wir nicht mehr. Wir sitzen zusammen und reden. Ich höre meinem Vater zu, meiner Mutter, meiner Frau. Das ist das wirklich Wichtige im Leben.“
(Die Interviews führte Katharina Kiecol im Januar 2024.)