Gemeinsam zurück in die Selbständigkeit
Yusuf Awad und Agir Mahiaoglu haben viele Gemeinsamkeiten. Beide leben derzeit mit ihren Familien in der türkischen Stadt Kahramanmaras, sind 2012 aus Syrien geflohen, haben bereits als Jugendliche ihr Handwerk von ihren Vätern gelernt und sich selbständig gemacht. Und beide haben ihre Geschäfte wieder verloren.
Yusuf Awad war gerade einmal zehn Jahre alt, als sein Vater ihm beibrachte, mit der Maschine Kleidung zu nähen. Das war vor rund 40 Jahren. Er liebt diesen Beruf. Aber es war auch nicht immer leicht. „Die größte Herausforderung, als wir in die Türkei kamen, war die Sprache. Ich konnte kein Türkisch und kannte die Kultur nicht. Also musste ich erst einmal in der Landwirtschaft als Tagelöhner arbeiten, bevor ich nach einiger Zeit wieder als Schneider arbeiten konnte. Vor vier Jahren hatte ich dann so viel Geld gespart, dass ich mich selbständig machen konnte“, berichtet Yusuf Awad.
Auch in der Familie von Agir Mahiaoglu hat das Handwerk eine lange Tradition. Bereits sein Großvater arbeitete als Dreher und gab das Wissen an seinen Sohn und dieser dann später an Agir weiter. Die Familie hatte in Latakia ein eigenes Unternehmen, doch dann kam der Krieg und Agir Mahiaoglu floh mit seiner Familie. Die syrische Armee kam und beschlagnahmte seine Maschinen. Er konnte nichts aus seinem Unternehmen retten. Nur sein Wissen.
„Erst die menschengemachte Katastrophe, der Krieg, und dann die Naturkatastrophe, das Erdbeben“
Das Leben auf der Flucht bedeutete für beide Familien, immer wieder neu zu beginnen. Sie lebten in Nachbardörfern, bis der Krieg sie einholte, sie flohen über die Grenze und lebten in Geflüchtetencamps, bis die türkische Regierung sie vor einigen Jahren nach Kahramanmaras umsiedelte. Nachdem sie sich hier alles wieder aufgebaut hatten, kam das Erdbeben.
„Erst die menschengemachte Katastrophe, der Krieg, und dann die Naturkatastrophe, das Erdbeben“, sagt Agir Mahiaoglu.
Bei dem Erdbeben 2023 in der Türkei und in Syrien starben rund 55.000 Menschen, Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Kahramanmaras war eine der Städte in der Türkei, die am stärksten betroffen war. Auch die Geschäftsräume von Yusuf Awad und Agir Mahiaoglu waren beschädigt, die Werkstatt von Agir sogar so stark, dass er nicht mehr zurückkonnte.
Im März 2024, also rund ein Jahr nach dem Erdbeben, haben wir, gemeinsam mit der lokalen Organisation Orange damit begonnen, Kleinunternehmerinnen und -unternehmer in der Türkei zu unterstützen, die aufgrund des Erdbebens Unterstützung benötigen. Manche, wie Agir, mussten in neuen Räumen wieder von vorne beginnen. Yusuf hatte mehr Glück. Seine Schneiderei steht noch, auch wenn seit dem Erdbeben ein großer Riss unterhalb der Decke zu sehen ist. Doch andere Räumlichkeiten kann er nicht finden, seit dem Erdbeben sind Wohn- und Büroräume rar.
Nach der Nothilfe nun der Wiederaufbau
60 Stunden lang nehmen Yusuf und Agir nun gemeinsam mit 30 weiteren Teilnehmenden an einem Kurs teil. Dort lernen sie, wie sie ihr Business auf den sozialen Plattformen bewerben, wie sie ein eigenes Firmenlogo entwerfen können und vieles mehr. Am Ende des Kurses müssen sie dann einen eigenen Businessplan entwickeln.
„Direkt nach dem Erdbeben war es zunächst wichtig, Leben zu retten, die Menschen medizinisch zu versorgen und mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Doch das Erdbeben war so stark, die Auswirkungen so immens, dass die Menschen bis heute unter den Folgen zu leiden haben. Deshalb ist es uns mit diesem Projekt wichtig, syrische und türkische Unternehmerinnen und Unternehmer zu stärken, damit sie wieder in der Lage sind, sich und ihre Familien zu versorgen“, sagt Lena Schellhammer, Projektreferentin für die Türkei.
„Vieles, was ich in dem Kurs lerne, kenne ich bereits. Aber einiges ist doch interessant für mich. Und vor allem ist es gut, dass ich Geld erhalte, um mir neue Maschinen zu kaufen. Das hilft besonders“, sagt Agir.
2.900 Euro bekommen die Teilnehmenden des Programms als Startkapital. „Dies ist ein Pilotprojekt“, sagt Lena Schellhammer. „Wenn wir sehen, dass es erfolgreich ist, würden wir es gerne weiter ausweiten, damit wir noch mehr Menschen unterstützen können, die durch die Auswirkungen des Erdbebens ihre Existenzgrundlage verloren haben.“